Was ist der unverzichtbare Kern der Mathematik?

Die Frage nach dem unverzichtbaren Kern mathematischen Wissens ist gewiss keine Neue. Zuletzt wurde ich auf der diesjährigen Tagung des AKMUI der GDM wieder einmal mit ihr konfrontiert. Eine Antwort wurde jedoch auch dort nicht gegeben.

Was also ist der unverzichtbare Kern der Mathematik? Welches sind diejenigen mathematischen Inhalte, die auf jeden Fall unterrichtet werden müssen? Gibt es Inhalte, Methoden, Themen, Gebiete, Formalismen, Algorithmen, Formeln, Definitionen, Sätze oder Beweise, auf die nicht verzichtet werden kann? Gibt es kanonische Inhalte, die jede Schülerin und jeder Schüler kennengelernt haben muss, damit der Anspruch einer Allgemeinbildung erfüllt werden kann?

Aus eigener Anschauung weiss ich, dass selbst der Satz des Pythagoras, obwohl über Jahre hinweg und bei verschiedensten Gelegenheiten immer wieder genutzt, nach bereits wenigen Jahren nicht mehr wiedergegeben, geschweige denn angewendet werden kann. In Deutschland ist es in weiten Bereichen akzeptiert, Mathematik nicht verstanden zu haben. Ja man darf sich damit sogar ohne Ansehensverlust brüsten. In anderen Ländern wie z.B. Frankreich scheint dies anders zu sein. Handwerksmeister klagen, dass die Qualifikationen ihrer Auszubildenden den Anforderungen nicht genügen. Und so weiter und so fort. Wäre es da nicht wünschenswert, einen Kern an mathematischen Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten festzulegen, auf den sich alle einigen, damit der Streit darüber ein Ende finde? Gibt es vielleicht bereits Kataloge solcher superkritischen Inhalte, die man einfach nur noch zusammenführen müßte?

Nun ja, da gibt es ja die nationalen Bildungsstandards für den Primarbereich, Hauptschulabschluss und die mittlere Reife. Über diese Bildungsstandards hinaus gibt es eine Flut weiterer Festlegungen von erwarteten Outputs. Genannt seien die verschiedenen Vergleichsarbeiten und Jahrgangsstufentests. Konkret wird man natürlich auch mit den jeweiligen Abiturprüfungen. Dies gilt in besonderem Maße in den Bundesländern, in denen es eine zweigeteilte Abiturprüfung gibt. Einen hilfsmittelfreien Teil zum Abprüfen von Grundkompetenzen und einem Teil in der bestimmte Technologien wie Graphikrechner oder Computer-Algebra-Taschencomputer zugelassen sind. Sind die jeweils getesteten Inhalte damit gleichzeitig auch die unverzichtbaren?

Ein weiterer, eher inputorientierte Ansatz wäre, einfach alle deutschen Lehrpläne miteinander zu vergleichen und den kleinsten gemeinsamen Nenner herauszuarbeiten. Es besteht nur die Gefahr, dass dieser gemeinsame Nenner wegen der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung so klein ist, dass wir alle ob dieser Kleinheit ganz fürchterlich erschrecken werden. Zudem gibt es zahlreiche Stimmen, die meinen, dass bereits die jetzigen Lehrpläne über alle Maßen ausgedünnt sind und viele wesentliche Gebiete nicht oder nicht mehr berührt werden. Eine Klage, die man wohl auf vielen Tagungen hört.

Im Jahr 2000 haben einigen Mathematikpädagogen versucht, Kriterien zu entwicklen, wann ein bestimmter Inhalt als verzichtbar oder eben als unverzichtbar gelten soll. Die Antworten wurden inbesondere unter dem Eindruck der damals stark zunehmenden Verbreitung von Computer-Algebra-Systemen gegeben. Das Thesenpapier Herget, Heugl, Lehmann, Kutzler: Welche handwerklichen Fähigkeiten sind im CAS-Zeitalter unverzichtbar? hat in damals eine rege didaktische Diskussion ausgelöst. Mutig war es allemal, da es eine solche Konkretisierung bis dahin nicht gegeben hat. Die national wie international geführte Diskussion war allerdings nicht nur rege, sie war auch in einem hohen Maße kontrovers.  Wie wohl jeder Lehrplanmacher bestätigen kann, hagelt es (verbale) Prügel, sobald man konkret und verbindlich wird. Solange man unverbindlich bleibt, stimmen wohl alle der Feststellung von Hans Schupp zu: „Der Computer zwingt uns zum Nachdenken über Dinge, über die wir auch ohne Computer hätten nachdenken müssen.“ (AKMUI Tagung 1993)

Kann die gemeinsame Kommission von MNU, GDM und DMV abhilfe schaffen? Durch Setzung eines Faktums. Im Rahmen eines demokratischen Prozesses. Einfach so. Punkt? Oder hat diese nicht bereits viel erreicht, wenn die Streitigkeiten an der Übergangsstelle Schule-Hochschule überwunden werden können?

Völlig verloren ist man, wenn man Dietrich Schwanitz: Alles was man wissen muss zu Rate zieht. Der Autor weist selbst darauf, dass Naturwissenschaften, wozu hier auch die Mathematik gezählt wird, in gewissen Kreisen als nicht eben notwendig erachtet werden. Da lobe ich mir doch die differenzierte Betrachtung von Hans Werner Heymann: Allgemeinbildung und Mathematik (1996), in der Presse zu Unrecht zusammengefasst mit „Sieben Jahre Mathematik sind genug!“

Somit ist schliesslich auch klar, dass selbst eine Rückbesinnung auf mathematische Tugenden nicht weiter hilft. Die emotional und leidenschaftlich geführten Debatten zeigen, dass ein etwaiger Kanon unverzichtbarer Inhalte wohl nicht existiert und schon gar nicht eindeutig ist.

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